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Das Haus der Gegenwart, Leseprobe

Heute schien es früher zu dunkeln als gewöhnlich. Das Gewitter drohte weiter, kam nicht zur Sache, pendelte zwischen Fluss und Bergen, wetterleuchtete eher unentschlossen. Heute sei in der Tat eine Schachpartie geplant, sagte der alte Diener, man erwartete also von Yemin, dass er sich mit Lektüre ins Gästezimmer zurückzog.

»Wir kommen erst wieder morgen früh zum Aufräumen und um Frühstück zu machen. Aber sorge dich nicht, dir tut der Schachfreund des Deva nichts, denn der Deva ist mit dir, also kümmere dich nicht darum. Lies ein bisschen vor dem Schlafengehen, ich stelle dir noch ein Glas Saft ins Zimmer.«

Sprach’s und verschwand.

Yemin schaute ihm nach, wie er gemessen durch den dunklen Garten zum Dienerhaus ging, und begab sich unverzüglich in die Bibliothek.

Im Kamin brannte ein Feuer, das Schachspiel war aufgebaut, auf einem Tablett standen Südweinflaschen und zwei geschliffene Gläser. Hier war Anwesenheit! Da war Yemin sich sicher. Er ging ohne zu zögern auf das Tischchen zu und ergriff die Flasche. »Nehmen Sie Platz, mein Freund! Einen Port?« fragte er.
Das wurde nicht abgelehnt.

Yemin goss beide Gläser voll, sagte »Wohlsein!« und nahm einen ordentlichen Schluck. Dann zog er einen der mittleren Bauern vor. Der Schachgegner, so zeigte sich nach zwei Zügen, konterte mit der Figur ‘Zug der Kraniche’.

Natürlich war es Yemin, der die Figuren bewegte, aber wenn Schwarz am Zug war, geschah es ihm, dass seine scharfsinnigen Folgerungen aussetzten zugunsten einer Art Absence, in der er aufs Schachbrett sah, ohne sich einen Reim aus der Konstellation zu machen und ohne zu wissen, warum er diese Figur zog und nicht jene und warum auf dieses Feld. Ihm fiel auch auf, dass er keineswegs zufällig handelte, sondern konsequent einem Plan zu folgen schien, den er selber nicht kannte. Es bereitete ihm Vergnügen, dass Schwarz ihn somit laufend überraschte und mit Kombinationen aufwartete, auf die er nie gekommen wäre, die Weiß nicht einkalkulierte oder schon verworfen hatte.

Er verlor.

Bei der Revanche blieb die Verteilung der Farben erhalten, wiewohl das gegen die Regeln war, so schien es doch, dass er nur Weiß spielen konnte und der Gegner nur Schwarz. Wieder sah er das Spiel aus weißer Perspektive und zog die schwarzen Figuren in einer Art Blackout. Ebenfalls gegen die Regeln war, dass nun Schwarz den ersten Zug hatte, auch die Aufstellung stimmte nicht. Aber das war offenbar zwangsläufig und nach der Farbordnung zweitrangig.

Wieder gelang es Schwarz mehrfach, ihn zu überraschen.

Aber er gewöhnte sich schnell an die Handschrift des Gegners. Das verschaffte ihm nach und nach Vorteile. Er arbeitete zäh daran, die Strategie von Schwarz zu durchschauen. Es war ein System drin.

Er verstand, dass Schwarz ihn für vordergründig gute Züge, die aber von langer Hand Schwächen vorbereiteten, mit vorläufigem Rückzug belohnte und ihn damit aufs Glatteis zu locken versuchte.

Na, das ist doch endlich was Spannendes. Das Beste, was ihm hier bislang widerfuhr, mal vom Essen abgesehen. Er merkte, wie Kampfeslust, ja, nahezu Spielwut ihn packte, erinnerte sich dann aber daran, wer er war, nämlich Er, der Hausherr, also: Contenance, Haltung, Würde! — Und vor allem: Nur keine falsche Bescheidenheit. Denn die führt vielleicht zu größeren Fehlern als ein wenig unschuldiger Größenwahn. Wir tun ja keinem was Böses, wir vergessen allenfalls eine gefaltete Petition in einem erotischen Roman des Mittelalters...

Er unterbrach das Spiel, zog das Buch hervor, das irgend so ein Ordnungsfanatiker wieder an seinen Platz gestellt hatte, und entfaltete sein Lesezeichen. Es war ein Brief eines Witwers, der beklagte, er sei zu alt für die Feldarbeit, und die Familie seiner seligen Frau schikaniere ihn von früh bis spät, aber er wisse nicht, wohin; Kinder hatten sie nicht, er sei ohne Mittel und auf die Hilfe der Verwandten angewiesen...

»Baut ihm ein eigenes kleines Haus am Rande des Gutes, lasst ihm Essen von der Gemeinde bringen«, schrieb Yemin in seiner kraftvollen, ein wenig unausgegorenen Handschrift auf die Petition und legte sie zu den anderen auf den Schreibtisch.

Und wie endet der Roman? Das muss er doch auch noch rasch erfahren. Heroischer Verzicht und das Versprechen ewiger, unerfüllter Liebe? Der Prinz, der mit dem Feind schlief, ist ein Kandidat für die Steinigung, als er, in die Enge getrieben, die Hochzeit mit der Prinzessin absagt. Er bekennt sich zu seiner Liebe, dem Nachbarkönig. Da er sich verkleidet hatte, wurde der Heerführer also getäuscht, und der Hof seines Onkels befürchtet den nächsten Krieg! Zudem hat er lästerliche Unzucht getrieben! Allein dafür gebührt ihm strenge Strafe. Schon führt man ihn hinaus, um ihn zu steinigen, da schlägt vibrierend ein Pfeil in den Pfahl, an den man ihn fesselt. Um den Schaft des Pfeils ist ein Brief gewickelt, der Henker liest ihn laut vor, da man so den Deliquenten und dem Publikum üblicherweise die Begnadigung verkündet! Tatsächlich, der Nachbarkönig ist gerade noch rechtzeitig herbeigeilt, bekennt sich zu Sabir, spricht ihn von aller Schuld frei und bietet ihm seine Liebe und das halbe Schloss. Also hat sein Mut letztlich die Stadt gerettet, so wird er begnadigt, und es entsteht unverbrüchliche politische Partnerschaft.

Ach, und ohne diesen Verdienst hättet ihr ihn kaltherzig erschlagen?

Ha! Ihr Memmen! Heroischer Verzicht!

Nein. Es lebe die Liebe! Liebende gleichen Geschlechts sollen vor dem Gesetz sein wie Mann und Frau.

Gesiegelt und verkündet.

Er erinnert sich nun aber, dass das Gesetz dies noch verbietet. Da ist göttliches Eingreifen gefragt.

Yemin machte eine Notiz in der Planungsliste für die Vorhaben göttlicher Gebote und kehrte zum Schachtisch zurück. Dort führte er die Partie zuende und gewann zum ersten Mal.

»Ich ziehe mich nun zurück«, sagte er zu dem unsichtbaren Gast, »kommen Sie gut heim, grüßen Sie Ihre Großmutter von mir, alsdann, bis zum nächsten Mal, es war mir ein Vergnügen. Gute Nacht.«

Ein Knall, zugleich mit fahlgrün grellem Licht, beantwortete seinen Abschiedsgruß und erschreckte ihn fast zu Tode. Nun erst ging das Gewitter mit voller Wucht nieder. Die Glut im Kamin flackerte noch einmal bläulich auf, eine Bö rauschte durch die Baumkronen. Yemin, eingedenk seiner Pläne, verwarf tapfer den Impuls, sich ins Gästezimmer zu flüchten. Statt dessen trat er todesmutig durch die verbotene Tür. Einmal im Leben habe ich diese Chance — nun will ich’s wissen.